Gerhild Kreutziger - "inklusiv und solidarisch"
 

Erinnerung an den Mauerbau

Allgemein

1961 war ich zweieinhalb Jahre alt. Meine Eltern erwarteten das dritte Kind und hatten deshalb Abstand davon genommen, in den Westen zu gehen. Offenbar war zu spüren, dass etwas passieren und die Freiheit einschränken würde.

Meine Mutter war anläßlich der Heirat mit meinem Vater 1956 aus Wuppertal in die DDR übergesiedelt, mein Vater war Anfang der 50er JAhre auf Wanderschaft im Schwarzwald. Beide hatten gesehen, dass sich die Wirtschaft im westlichen Deutschland anders entwickelte als in der damaligen Ost-Zone.

Mein Vater hatte sein eigenes kleines Unternehmen für Kunststoffverarbeitung gegründet, hatte tolle Ideen und wurde vom Staat immer wieder mit Verstaatlichung bedrängt, der er sich nur dadurch entziehen konnte, dass er Mitarbeiter entließ, um eine bestimmte Größe zu unterschreiten.

Inzwischen war meine Schwester am 9. August geboren. Mit drei Kindern und um den eigenen Vater und die Schwester nicht allein in Görlitz zurückzulassen, nahmen meine Eltern endgültig Abstand davon, mit Kind und Kegel, Sack und Pack in den Westen zu gehen. Es würde wohl alles nicht noch schlimmer werden.

Und dann musste mein Vater meiner Mutter ans Wochenbett die Nachricht bringen, dass es doch schlimmer gekommen war. In Berlin war man dabei, eine dicke Mauer aufzubauen, um die restliche DDR gen Westen ebenfalls. Die Verwandten in Sonneberg durften nur noch mit Passierschein besucht werden, der Brocken im Harz überhaupt nicht mehr.

Als Kind war es für mich ein Ereignis, wenn Verwandte aus dem Westen zu Besuch kamen. Und der Opa durfte nach Wilhelmshaven zu seiner Tochter fahren, die andere Oma (einmal sogar in Begleitung meiner Mutter) nach Wuppertal zu ihrer zweiten Tochter dort. Die Mauer  war für mich als Kind nie real. Eine Grenze verlief halt wie in Görlitz mitten durch einen Fluss, das war ok.

Erst als ich 1975 mein Studium in Berlin anfing, begriff ich allmählich die Realität dieses Einschnittes vom 13. August 1961. Die Hochschule lag genau gegenüber vom  Mauerstreifen, dem unmittelbar benachbarten Brandenburger Tor durfte man sich nicht nähern und der Gang zum Hochschulsport in der Turnhalle der Spezialschule in der Rheinsberger Straße machte deutlich, dass eine Straße einfach mittendurch zugemauert worden war. Unter manchen Lüftungsplatten auf der Friedrichstraße war von Zeit zu Zeit ein lautes Brausen zu vernehmen und Einheimische sagten dann ganz leise "Das ist die U-Bahn von Westberlin nach Westberlin, die unter Berlin-Mitte ohne Halt durchfährt."

Das alles war damals erst knapp 14 Jahre her.

Inzwischen liegt das alles bereits 53 Jahre zurück. Was die Berliner 1975 noch nicht wissen konnten, war der Fall der Mauer noch einmal knapp 14 Jahre später. Woher die Menschen die Kraft dazu nahmen, lässt sich nur erahnen. Es war sicherlich nicht allein der unbedachte Satz eines DDR-Politikers, der die Grenzen unvermutet öffnete, sondern die Erinnerung an ein einheitliches Berlin, in dem die Eingänge zu U- und S-Bahnen nicht zugemauert waren, damit niemand aus Ostberlin fliehen konnte, die Erinnerung an Freunde und Verwandte, die plötzlich auf der anderen Seite der Mauer lebten und es war die Wut, sich nicht mehr von einer Riege alter Männer bestimmen zu lassen, was gedacht werden dürfe.

Und es war der Mut vieler Menschen, die riskierten, von der Straße weg verhaftet zu werden, die nicht wussten, ob auch scharf geschossen werden würde.

Heute werden immer wieder die Freudenszenen gezeigt, die sich abspielten, als die Mauer tatsächlich fiel. Viele haben davon profitiert, die sich nicht an den Demonstrationen beteiligt haben. Ich selbst war erst am 4. November 89 bei meiner ersten Demonstration. Den ganzen Sommer über hatte ich im Berliner Hedwigskrankenhaus gelegen und die Ereignisse nur am Fernsehapparat verfolgt.

Inzwischen weiß ich, dass einer meiner ehemaligen Schüler mittendrin war, von der Stasi mit Hunden verfolgt wurde, als er vom Friedensgottesdienst in einer Berliner Kirche kam. Ich ahne, was er gelitten hat. Richtig erzählen wollte er es mir nicht. So etwas verschließt man ganz tief in sich, um weiterleben zu können. Ihm danke ich heute hier ganz besonders. Und auch allen anderen mutigen Frauen und Männern, die auf der Straße den Fall der Mauer erkämpft haben, unter ihnen die von mir hochverehrte Regine Hildebrandt.

Danke Martin S., Danke Regine !